EuGH: Keine Pflicht zur nachträglichen Durchführung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens bei Gründung einer SE ohne Beteiligungsverfahren

20. Sep. 2024 | Der Aufsichtsrats-Blog, Kapitalgesellschaften, Management

Der Europäische Gerichtshof (#EuGH) hat in einer wegweisenden Entscheidung vom 16. Mai 2024 (Rechtssache C-706/22) klargestellt, dass keine Verpflichtung besteht, das #Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nachzuholen, wenn eine Europäische Aktiengesellschaft (#SE) ohne ein solches Verfahren gegründet wurde und erst nach der Gründung die Kontrolle über Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern übernimmt. Diese Entscheidung folgte einem Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 17. Mai 2022 (1 ABR 37/20) und bestätigt die Schlussanträge des Generalanwalts.

Hintergrund der EuGH-Entscheidung

Im zugrundeliegenden Fall wurde die O Holding SE von einer englischen Limited und einer deutschen GmbH ohne Arbeitnehmer und ohne Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern gegründet. Diese Gründung erfolgte gemäß Artikel 2 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 (SE-VO) als sogenannte Holding-SE im Vereinigten Königreich. Da weder die Limited noch die GmbH zum Zeitpunkt der Gründung Arbeitnehmer beschäftigten, konnte ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren gemäß Artikel 12 Absatz 2 SE-VO nicht durchgeführt werden.

Unmittelbar nach der Gründung übernahm die O Holding SE die Geschäftsanteile an einer deutschen Tochtergesellschaft, die rund 800 Arbeitnehmer beschäftigte. Einige Zeit später verlegte die SE ihren Sitz von Großbritannien nach Deutschland. Daraufhin verlangte der #Konzernbetriebsrat in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren, dass die Leitung der O Holding SE das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nachträglich durchführt.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH stellte in seiner Entscheidung klar, dass keine Verpflichtung besteht, das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nachzuholen. Die wesentlichen Aussagen des EuGH lauten:

1. Keine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens: Die Eintragung einer SE ohne Beteiligungsverfahren ist zulässig, wenn die Gründungsgesellschaften und deren Tochtergesellschaften zum Zeitpunkt der Gründung keine Arbeitnehmer beschäftigen. Dies wird durch Artikel 12 Absatz 2 SE-VO nicht ausgeschlossen.

2. Kein Recht auf nachträgliche Verhandlungen: Ein Recht auf nachträgliche Verhandlungen zur Beteiligung der Arbeitnehmer lässt sich weder aus dem Wortlaut der SE-VO noch aus der Richtlinie 2001/86/EG (SE-RL) ableiten, wenn kein besonderes Verhandlungsgremium (BVG) zu Beginn der SE-Gründung eingesetzt wurde.

3. Bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers: Das Fehlen einer Nachholungspflicht in der SE-VO und der SE-RL ist keine Lücke, sondern eine bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers, die auf dem sogenannten „Vorher-Nachher-Prinzip“ basiert. Ein Recht auf Nachholung des Verfahrens war zu keinem Zeitpunkt vorgesehen.

4. Einschränkungen durch Artikel 11 SE-RL: Artikel 11 SE-RL sieht keine Verpflichtung zum Nachholen des Beteiligungsverfahrens vor, lässt jedoch den Mitgliedstaaten Raum zur Verhinderung von Missbrauch. Ein Missbrauch setzt voraus, dass trotz Einhaltung der formalen Regelungen die Ziele der Richtlinien nicht erreicht werden und eine Absicht vorliegt, sich einen unrechtmäßigen Vorteil zu verschaffen.

Auswirkungen auf die Praxis

Diese Entscheidung hat weitreichende Auswirkungen auf die Praxis der Gründung von arbeitnehmerlosen SEs. Sie bestätigt, dass ein Nachholen des Beteiligungsverfahrens in der Regel nicht erforderlich ist, es sei denn, es liegt ein Missbrauch im Sinne von Artikel 11 SE-RL vor. In Deutschland könnte diese Entscheidung die bisherige Praxis, eine Nachholungspflicht aus § 18 Abs. 3 SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) analog abzuleiten, deutlich einschränken.

Darüber hinaus bleibt offen, ob die Grundsätze des EuGH auch auf sogenannte  #Vorrats-SE übertragbar sind. Für die Vermeidung von Missbrauchsfällen könnte der deutsche Gesetzgeber jedoch eine gesetzliche Regelung zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens in engen Grenzen einführen.

Fazit und Ausblick

Der EuGH hat klargestellt, dass die Nachholung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens bei der Gründung einer SE ohne Beteiligungsverfahren nicht erforderlich ist, solange kein Missbrauch vorliegt. Diese Entscheidung betont die Bedeutung einer präzisen rechtlichen Prüfung bei der Gründung und Umstrukturierung von SEs und könnte dazu führen, dass der Gesetzgeber in Deutschland über gesetzliche Anpassungen zur Missbrauchsvermeidung nachdenkt.

Für weitere Details zur Entscheidung können Sie die [Verordnung Nr. 2157/2001 (SE-VO)](https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:32001R2157) und die [Richtlinie 2001/86/EG (SE-RL)](https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:32001L0086) einsehen.

Verfasser: Redaktion Directors Academy

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