Groß-)Meister*in der Aufsichtsratsarbeit werden!

8. Nov. 2024 | Der Aufsichtsrats-Blog, Finanzinstitute, Kapitalgesellschaften, Management

Lesen Sie nur die Folien oder auch den „board room“?

Gastbeitrag von Thomas Doyle

Zwischenmenschliche Skills sind für gute Aufsichtsratsarbeit unerlässlich!

Als erfahrener Aufsichtsrat und CEO mit über 25 Jahren Erfahrung in internationalen Gremien möchte der Autor Thomas Doyle hier einige Impulse aus seiner langjährigen Executive Coaching- und Mentoring-Tätigkeit für Kandidat*innen geben, die ihr erstes Mandat antreten oder zum ersten Mal die Rolle des/der Vorsitzenden übernehmen.

Aufsichtsratsarbeit als reine Interaktion

Erfahrene Manager*innen wissen, dass fachliche oder technische Kenntnisse allein selten für den Erfolg ausreichen. Rückblickend auf Erfolge und Misserfolge der Vergangenheit zeigt sich oft, dass die Interaktion mit anderen Menschen in beiden Fällen entscheidend war. Das gilt auch für die Arbeit im Aufsichtsrat, die häufig als eine reine „Interaktion“ betrachtet werden kann. Sitzungsunterlagen und Folien werden zwar getrennt gelesen, doch die Besprechung erfolgt immer gemeinsam – in Interaktion mit anderen Mitgliedern oder mit dem Vorstand bzw. der Geschäftsführung, die man seltener sieht und weniger gut kennt.

Die Qualität der Aufsichtsratsarbeit wird oft weit mehr durch die Qualität dieser Interaktionen in den Sitzungen als durch die der vorbereiteten Unterlagen beeinflusst. Einfach gesagt: Fachliche Fähigkeiten helfen, die Sitzungsunterlagen besser zu verstehen; Interaktionsfähigkeiten helfen, den „board room“ besser zu lesen!

Interaktionen sind im Kern auch Verhandlungen

In jeder Interaktion, wie auch in Verhandlungen, wird immer etwas getauscht. Ob es um Vermögensgegenstände, Dienstleistungen, Meinungen, Interessen oder Positionen geht – im Kern dreht sich alles um den Austausch von Werten. Interaktionen im Aufsichtsrat und klassische Geschäftsverhandlungen folgen daher ähnlichen Grundstrukturen und Dynamiken. Gute Verhandlungsskills sind von überproportionaler Bedeutung für gute Aufsichtsratsarbeit. Kommunikations-, Konflikt- oder rhetorische Fähigkeiten sind ebenfalls wichtig, fungieren jedoch eher als Stilelemente. Wenn ich nicht weiß, was ich tausche und wie ich es tausche, helfen diese Stilelemente nicht weiter. Nur wer es schafft, den Wert der eigenen Meinung „am Aufsichtsratstisch“ zu verhandeln und dabei die Sichtweisen und Interessen der anderen berücksichtigt, trägt effektiv zu einem Mehrwert in der Aufsichtsratsarbeit bei.

Die Methodologie der Großmeister*innen

In Verhandlungen gibt es drei Faktoren, die uns stark beeinflussen oder als größte Hindernisse für gute Ergebnisse wirken können. Diese sind auch in der Aufsichtsratsarbeit von großer Bedeutung:

1.  Empfinden wir den speziellen Werttausch als gleichwertig?

2.  Empfinden wir die Persönlichkeiten der anderen Mitglieder/Teilnehmer als besonders herausfordernd?

3.  Empfinden wir spezielle Situationen oder bestimmte Muster als besonders herausfordernd?

(Groß-)Meister*innen in der Aufsichtsratsarbeit

Der niederländische Psychologe Adriaan de Groot untersuchte im letzten Jahrhundert in seiner Arbeit „Thought and Choice in Chess“, was Schachgroßmeister*innen von anderen Spielern unterscheidet. Er ließ Spieler*innen unterschiedlicher Fähigkeitsstufen unbekannte Brettmuster analysieren und ihre Gedankengänge aufzeichnen. Er fand heraus, dass alle Spieler*innen grundsätzlich durch vier Phasen gehen, wenn sie eine Lösung suchen: 1.) Orientierungsphase, 2.) Erkundungsphase, 3.) Vertiefungsphase und 4.) Bestätigungsphase. Großmeister*innen zogen dabei nicht signifikant mehr Optionen in Betracht, waren aber in der ersten Orientierungsphase deutlich überlegen. Ihre Fähigkeit, ein unbekanntes Brettmuster sofort mit in der Vergangenheit gespielten oder studierten Partien zu vergleichen, gab ihnen einen entscheidenden instinktiven Vorteil, um die beste Strategie zu bestimmen.

Jeder hat ein „Top 10”

In der Aufsichtsratspraxis gibt es eine Vielzahl verschiedener Muster, die bewusst oder unbewusst entstehen und sowohl die Wahrnehmung als auch die Entscheidungsfindung beeinflussen können (z.B. der Umgang mit Krisen, Eskalationen, Risiken, Reputationsschäden, Kündigungen usw.). Die gute Nachricht für uns Normalsterbliche ist jedoch, dass es in Verhandlungssituationen oder bei Aufsichtsratsinteraktionen oft schon ausreicht, ein „Top 10“ von Situationen oder Mustern zu erkennen, um die Qualität der Aufsichtsratsarbeit signifikant zu steigern – anders als Schachgroßmeister*innen wie Judit Polgár oder Garri Kasparow, die auf zigtausend Spiele und Brettmuster zurückgreifen können.

Fazit

Das Skillset, das wir während der Orientierungsphase benötigen, ist ein sehr menschliches und liegt in uns allen. In Interaktionen im Rahmen der Aufsichtsratsarbeit passiert diese initiale Orientierungsphase instinktiv – unabhängig davon, ob es uns gefällt oder nicht. Die einzige Frage ist, ob wir uns entscheiden, darauf zu hören oder nicht. In meiner Coaching- und Mentoring-Arbeit helfe ich Manager*innen und Aufsichtsratsmitgliedern, ihre persönlichen „Top 10“ – die Situationen, die sie am meisten beeinflussen oder als besonders herausfordernd empfinden – zu erkennen und zu meistern!

Thomas Doyle

thomas.doyle@beyondconcern.com

Über den Autor:

Thomas Doyle ist ein international erfahrener CEO und Aufsichtsrat, der seit 2000 zahlreiche Non-Executive Board-Positionen bei Public Interest Entities (PIE) in der Finanzdienstleistungsbranche innehatte. Er verfügt über den „fit-and-proper“-Status zur Führung und Beaufsichtigung von Finanzunternehmen bei mehr als zehn Finanzregulatoren innerhalb der EU. Zudem ist er langjähriger Executive Coach und Mentor, spezialisiert auf Verhandlungstechniken und Leadership. Dieser Gastbeitrag ist ein Auszug aus seinem Mentoring-Programm „The Art of Human Interaction“.

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