Die Integration von Künstlicher Intelligenz in Entscheidungsprozesse schreitet mit großer Geschwindigkeit voran – auch im Bereich der Corporate Governance. Was bislang unter dem Schlagwort „digitale Transformation“ firmierte, bekommt durch generative KI-Systeme wie ChatGPT eine neue strategische Dimension. Für Aufsichtsräte stellt sich dabei eine doppelte Herausforderung: Sie müssen den Einsatz von KI im Unternehmen bewerten und gleichzeitig überlegen, wie sie selbst KI zur Erfüllung ihrer Überwachungsfunktion einsetzen können – ohne ihre eigene Rolle zu unterminieren.
KI macht Kontrolle effizienter – und risikoreicher
Die Potenziale sind verlockend. KI-Systeme können Entscheidungsprozesse transparenter machen, Daten schneller analysieren und Muster aufzeigen, die menschliche Gremien übersehen würden. Für Aufsichtsräte eröffnen sich neue Möglichkeiten: Frühwarnsysteme zur Risikobewertung, automatisierte Auswertungen interner Reports oder gar Vorschläge zur Strategieüberprüfung. Besonders in komplexen Unternehmensstrukturen kann KI helfen, die Informationsasymmetrie zwischen Vorstand und Aufsichtsrat zu verringern – vorausgesetzt, der Zugriff auf relevante Trainingsdaten ist geregelt.
Doch genau hier liegt die erste Grenze: Wer kontrolliert die KI, wenn sie die Kontrolle unterstützen soll? Wer haftet bei Fehlentscheidungen auf Basis algorithmischer Analysen? Und wie lässt sich die Nachvollziehbarkeit sicherstellen, wenn Entscheidungen nicht mehr auf menschlichem Ermessen, sondern auf nicht einsehbaren Datenmodellen beruhen?
KI als Mythos – Aufsicht braucht menschliches Urteil
Skeptiker warnen: Die Erwartung, dass KI die Aufsicht revolutionieren könne, verkennt die soziale und normative Dimension von Gremienarbeit. Kontrolle ist nicht nur eine Frage der Datenverfügbarkeit, sondern auch des Urteilsvermögens, der Erfahrung und der Verantwortung. Algorithmische Systeme mögen Unterstützung bieten – sie ersetzen aber nicht das kritische Nachfragen, das Verstehen von Zwischentönen oder das Ringen um Haltung. Gerade weil KI-Systeme oft Blackboxes sind, braucht es Aufsichtsräte, die den Mut haben, auf der Einhaltung von Prinzipien zu bestehen – selbst wenn „die Daten“ etwas anderes sagen.
Zudem: KI-Systeme agieren auf Basis vergangener Daten – Innovation, unternehmerisches Wagnis und strategische Vision aber verlangen oft das Gegenteil. Die Versuchung, sich auf algorithmisch erzeugte Plausibilitäten zu verlassen, ist groß – und birgt die Gefahr einer gefährlichen Entlastungsillusion.
Aufsicht im KI-Zeitalter verlangt neue Governance-Kompetenz
Der eigentliche Kern liegt nicht in der Frage „pro oder kontra KI“, sondern in der Fähigkeit von Aufsichtsgremien, mit Unsicherheit souverän umzugehen. Künstliche Intelligenz wird integraler Bestandteil moderner Unternehmensführung sein – ob zur Effizienzsteigerung im Vorstand oder zur Automatisierung von Abläufen in der Hauptversammlung. Entscheidend ist: Wer steuert den Einsatz? Nach welchen Regeln? Mit welchem Ziel?
Daraus ergibt sich ein neues Kompetenzprofil für Aufsichtsräte: Sie müssen nicht selbst programmieren können, aber die Logiken und Grenzen algorithmischer Systeme verstehen – auch im Hinblick auf Haftung, Transparenz und Machtverteilung innerhalb der Organisation. Wer KI einfach „laufen lässt“, verpasst die Chance, Governance im digitalen Zeitalter aktiv zu gestalten. Wer sie aber nur misstrauisch beäugt, riskiert strategische Blindheit.
Fazit: KI verändert die Spielregeln der Corporate Governance – leise, aber grundlegend. Gremien, die sich frühzeitig mit den rechtlichen, technischen und ethischen Fragen ihres Einsatzes befassen, sichern nicht nur ihre eigene Wirksamkeit, sondern auch die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens. Die Frage lautet nicht: Ob, sondern: Wie verantwortungsvoll KI in der Aufsicht genutzt wird.
Wie hält es Ihr Gremium damit? Einen aktuellen und systematisch durchdachten juristischen Rahmen bietet: Maximilian Windorf, Künstliche Intelligenz in der Aktiengesellschaft – Auswirkungen auf Organisationsverfassung und Unternehmensführung, Mohr Siebeck, Tübingen 2025 (zugleich Dissertation Universität Hamburg 2024). Der Autor ist promovierter Jurist und setzt sich an der Schnittstelle von Aktienrecht und Künstlicher Intelligenz mit den tiefgreifenden Veränderungen für Corporate Governance auseinander.
Ein Beitrag der Directors Academy, der digitalen Weiterbildungsplattform für Aufsichtsräte und Beiräte.