Was Aufsichtsräte über die Inflation wissen sollten.

21. Feb. 2023 | Der Aufsichtsrats-Blog, Kapitalgesellschaften, Management

Gastbeitrag von Heike Adam, Expertin für Finanzen, Krise & Inflation

Inflation, seit 40 Jahren nicht erlebt. Die beiden letzten, während der Ölkrisen 1973/1974 und 1981, sind vielen vorrangig durch autofreie Sonntage und nur vage durch steigende Preise in Erinnerung, aber kaum aus verantwortlicher Position in einem Unternehmen, mit umfassendem Blick auf wirtschaftliche und finanzielle Effekte, gesellschaftliche sowie globale Konsequenzen. Der verfälschende Einfluss auf Rechnungslegung und Unternehmenssteuerung ist nur selten präsent, die Existenz von Regeln zur Bilanzierung in Hochinflationsländern kaum bekannt.

Die Inflation ist die schwerste Form der Wirtschaftskrise. Denn sie betrifft nicht nur einzelne Branchen, sondern eine Volkswirtschaft als Ganzes. Die Vernichtung finanzieller Substanz geschieht unmittelbar, in großen Dimensionen, fast flächendeckend und für die gesamte Bevölkerung sowie große Teile der Wirtschaft. Sie ist damit von hoher sozialer Relevanz, birgt erhebliches politisches und gesellschaftliches Gefahrenpotential. Daher rühren die besondere Sensibilität und die oberste Zielsetzung westlicher Zentralbanken, Inflationen zu unterbinden bzw. Inflationsraten sehr gering zu halten, auch auf Kosten von Rezessionen. Inflationen selbst und ihre Bekämpfung kreieren stets Rezessionen unterschiedlicher Stärke. Unternehmerisches und kontrollierendes Agieren sollte diesen Effekt aktiv antizipieren.

Unternehmen erleben die Inflation zuerst nur in einzelnen Facetten, von steigenden Einstands- und Betriebskosten über höhere Lohnforderungen bis hin zum Nachfragerückgang. Alles Situationen, die der Führung aus früheren, anderen Krisen bekannt und mit klassischem Know-How beherrschbar sind. Doch unerwartet, weil unerlebt, sind die größeren Bögen und unterliegenden Effekte. Darin liegt ihr Risikopotential, das auch Aufsichtsräten bewusst sein sollte.

Inflationen und deren Folgewirkungen erfassen in ihrem Verlauf sukzessive die gesamte Wirtschaft. Eine im Wesentlichen akut mangelbasierte Inflation wie die aktuelle beginnt auf einzelnen Auslösermärkten, erreicht im Dominoeffekt Folgemärkte und Konsumentenmärkte. Dort triggern die hohen Preise mit zunehmender Dauer Nachfragerückgänge, die Inflation „kippt“ von Angebotskrisen in Nachfragekrisen. Denn Kunden reduzieren preissensibel ihre Mengen, weichen auf preiswertere Substitute aus oder verschieben ihre Budgets über die Breite ihres gesamten Konsums. So erreichen die Effekte nun verzögert auch Branchen, Märkte und Unternehmen, die in den ersten Phasen nicht betroffen waren und wirken entlang ihrer Lieferketten auch in die Vorstufen. Am Ende sind fast alle Märkte einer Wirtschaft betroffen, viele durch Kostensteigerungen bzw. Mengenrückgänge negativ, nur die Märkte für Substitute profitieren. Auch Inflationen, die nicht auf Mangel, sondern einem Nachfrageüberschuss beruhen, zeigen die gleichen Wirkungsketten. Preissteigerungen sowie Nachfragekrisen werden immer in die Vormärkte weitergegeben. Es gilt, diese späteren Phasen der Inflation zu antizipieren und das Risiko für das Unternehmen frühzeitig abzuschätzen.

Ein zweiter, nicht aktiv präsenter Effekt der Inflation ist der reale Wertverlust aller Geldbestände und des Nettoumlauf-vermögens aus rein monetären Positionen. Nicht nur aktuelle und zukünftige Gewinne sinken oder wandeln sich in Verluste. Bestehende Geldvermögen und Ersparnisse verlieren an Wert, da ihre Kaufkraft sinkt. Sie büßen damit Teile ihres Schutz- und Verlustkompensationspotentials ein, eine Erfahrung, die Unternehmern und Konsumenten in Deutschland fehlt. Von Anfang Januar 2022 bis Ende 2023 werden Eurobestände in Deutschland einen Kaufkraft- und Wertverlust von voraussichtlich ca. 15% erfahren. Darin liegen die besondere Gefahr und das Alleinstellungsmerkmal der Inflation, in der Erosion finanzieller Substanz. Nicht nur in einzelnen Branchen, sondern in der ganzen Breite der Wirtschaft und Gesellschaft. Diese gesamthafte Sicht auf die Inflation ist wesentlich, um aus Aufsichtsratssicht Wirkungen und Risiken für ein Unternehmen angemessen zu antizipieren.

Im Fall der Verantwortung für international agierende Unternehmen halte ich es für wichtig, die vier unterschiedlichen Ursachen und Formate von Inflationen zu kennen. Zwei werden durch finanzielle Mechanismen, zwei durch Marktmechanismen ausgelöst.

Finanzseitig können starke Erhöhungen von Verbrauchssteuern ein Treiber sein, die aufgrund der Ankündigung und Einmaligkeit zwar planbar sind, aber Preise dauerhaft erhöhen. Schwerer, weil volatiler und häufig mit größeren Ausschlägen, wirken Wechselkurseinflüsse, sogenannte importierte Inflationen. Die Finanzmärkte reagieren auf Änderungen von Zinsgefügen oder Länderspezifika, die Landeswährung verliert an Wert, Importe verteuern sich und treiben die Preise. Wechselkursbasierte Inflationen sind häufig in Lateinamerika mit vielen klassischen Hochinflationsländern zu beobachten. Beim Aufbau eines breiten Konsumgüterexportgeschäftes sollte dieses Risiko Berücksichtigung finden.

In der westlichen Wirtschaft werden Inflationen vorrangig über Marktmechanismen verursacht, entweder durch Nachfrageüberschüsse oder Angebotsrückgänge. Beide lassen einen Teil der Nachfrage unbefriedigt und führen zu Preissteigerungen. Nachfrageüberschüsse entstehen u.a. durch Geldmengenausdehnung, also ursprünglich finanzseitig induziert, breite Einkommenssteigerungen sowie massives Entsparen und großen Zukunftsoptimismus auf Konsumentenseite. Hier sind es zusätzliche Konsumwünsche, die nicht befriedigt werden können. Zinserhöhungen bilden für Zentralbanken das Mittel der Wahl, um Nachfrage und wirtschaftliche Aktivität aktiv zu bremsen und Preise dadurch sinken zu lassen. Rezessionen werden zum Wohlstandsschutz der breiten Bevölkerung bewusst in Kauf genommen. Auch hier gilt es, diese zeitlich versetzten Folgen in Beurteilungen einzubeziehen. 

Deutlich intensiver und gefährlicher in ihrer Wirkung sind akute, überraschende und als längerfristig erwartete Angebotsrückgänge, die signifikante Unterschreitung bisher stabiler Mengen und die kritische Einschränkung etablierter Versorgungen. Als Reaktion kommt es kurzfristig zu extrem hohen Preissteigerungen. Der Effekt ist besonders gravierend, wenn der Mangel auf Rohstoffmärkten auftritt und von dort aus breit in die Wirtschaft ausstrahlt. Diese Preisanstiege sind durch Zinserhöhungen schwer zu beeinflussen, sondern nur durch ein Ende des Mangels. Hier muss also von einer längeren Dauer der Inflation und der Folgerezession ausgegangen werden.

Mangelgetriebene Inflationen, speziell im Rohstoffbereich wie die aktuelle, haben stets einen transformativen Charakter. Akute Engpässe öffnen die Wege für Substitute und neue Technologien. Diese werden trotz hohen Umstellungsaufwandes und auch mittelfristig höherer Preise nach Ende der Inflation schon aus Risikomanagementgründen partiell beibehalten. Unternehmen vergrößern die Bandbreite an Lieferanten und Einsatzprodukten gezielt, resultierend in höherer Komplexität und zusätzlichen Kosten, die jedoch bewusst in Kauf genommen werden. Die aktive Mangelerfahrung führt zu neuer Sensibilität und Risikobewusstsein. Verlierer dieses Wandels sind die Auslösermärkte der Inflation, die nun dauerhaft und in großem Umfang Mengen verlieren.

Unternehmen, die eine Inflation relativ gut oder sogar innerhalb ihrer Märkte gestärkt überstehen, weisen häufig vier Resilienzmerkmale auf: Sie sind marktführend und innovativ. Sie sind technologisch relevant spezialisiert. Sie haben ein anteilig großes, global breites Exportgeschäft bzw. produzieren vor Ort. Exporte und internationale Präsenz bewähren sich damit nicht nur als Umsatzgenerator, sondern auch als Risikodiversifizierer und -minimierer. Und sie verfügen über eine starke finanzielle Substanz, die temporäre Verluste kompensiert.

Für Aufsichtsräte treten neben das Verständnis der Einflüsse auf Umsatz, Ergebnis- und Liquidität aus diesen Perspektiven die Thematiken der zahlenbasierten Unternehmenssteuerung und der Rechnungslegung. Periodenvergleiche und darauf basierende Performance-Kennzahlen verlieren ihre Aussagekraft und Beurteilungsqualität, wenn Preiserhöhungen nicht Ergebnis eigener Kraft, sondern branchen- oder wirtschaftsweiter Anpassungen sind und nicht in Relation zu den legitimierenden Kostensteigerungen betrachtet werden. In der Rechnungslegung birgt die Bilanzierung zu Anschaffungskosten die Gefahr nomineller Scheingewinne, denen die reale Substanz fehlt. Im Fall internationaler Unternehmen und Konzerne können einzelne Länder eine dermaßen hohe Inflation aufweisen, dass die standardmäßige Euroumrechnung der Bilanzpositionen, inkl. Eigenkapital, nominelle Werte erzeugt, die die realen Werte deutlich überschreiten. Aufsichtsräte sollten auch wissen, dass für die Identifikation von Hochinflationsländern und die Bilanzierung dortiger Unternehmen klare Regeln existieren, die die Einführung eines Inflation Accounting bedingen können. Unternehmen Aktuell erfüllen u.a. die Türkei und Argentinien diese Kriterien.

Ein Ausblick: Die dauerhafte Rückkehr zu früheren Preiseniveaus und Inflationsraten kann als unwahrscheinlich gelten. Die Preise für Energie werden strukturell bedingt dauerhaft höher bleiben, da wir uns politisch entschieden haben, Importe aus Russland auch langfristig massiv zu reduzieren.

Zusätzlich steigt der Einfluss der „3D“ der strategischen Inflationstreiber. 1. Die weltweit angestrebte Dekarbonisierung aller energiebasierten Prozesse und Produkte, die teurere Alternativen und umfassenden Infrastrukturumbau erfordert. 2. Der westliche Trend zu Deglobalisierung und Relokalisierung, der zu Investitionsbedarf sowie deutlich höheren Lohn- und Betriebskosten führt. 3. Die Wirkungen der Demographie mit zunehmendem Mangel an Arbeitskräften in den europäischen Wirtschaften, der Lohn- und Gehaltsniveaus treibt und Automatisierungsaufwand notwendig macht. Alle drei Effekte lassen bereits singulär Kosten und damit auch Preise merklich steigen, in Summe ist von einer gesamtwirtschaftlich signifikanten und längerfristig preistreibenden Wirkung auszugehen. Die Inflation ist „here to stay“. Es ist von Vorteil, sie gut zu verstehen.

Über die Autorin:

Heike Adam ist als selbständige Unternehmensberaterin Expertin für Finanzen, Krise & Inflation, Associate Partner der Theron Advisory Group sowie Lehrbeauftragte der Euro-FH Hamburg. Sie hat an der Humboldt-Universität zu Berlin BWL studiert, ist anschließend mit Schwerpunkt Finanzen über 20 Jahre für die Dax-Konzerne Henkel und Beiersdorf international tätig gewesen. Bei Henkel war sie u.a. für die Hochinflationsländer und das Globale Inflation Accounting verantwortlich. Sie hat die praktischen Implikationen einer Inflation direkt erlebt. Sie weiß, wie intensiv Inflation Wirtschaft und Unternehmen beeinflusst, wie schnell Umsätze und Substanz erodieren und wie Unternehmen gegensteuern können. Mit dem „Inflation-Märkte-Modell“ hat sie das erste mikroökonomische Modell zur Inflation entwickelt, das ins Lehrangebot der Euro-FH Hamburg aufgenommen wird. Ebenfalls bei Henkel leitete sie mehrfach globale Controlling-Bereiche. Als Mitglied der Geschäftsführung Südeuropa steuerte sie die dortigen Beiersdorf-Firmen durch die griechische Finanzkrise und Turn Arounds. Seit vielen Jahren hält sie erfolgreich Vorträge, Seminare und Lehrveranstaltungen.

www.heike-adam.com

Aufsichtsrats-Blog durchsuchen

E-Mail-Newsletter

Directors Essentials

Mit dem kostenlosen Governance-Newsletter Directors Essentials erhalten Sie Wissenswertes aus der Welt der Corporate Governance: Von aktueller Rechtsprechung und neuen Regularien bis hin zu Veranstaltungshinweisen.

Newsletter abonnieren

* Pflichtfeld
Ich interessiere mich für Neuigkeiten im Bereich
WordPress Cookie-Hinweis von Real Cookie Banner