Gastbeitrag von Prof. Dr. Hartmut Mohr
Die europäische Aktiengesellschaft
Die europäische Aktiengesellschaft, lateinisch Societas Europaea, abgekürzt SE, hat sich in den letzten 20 Jahren etabliert, vielleicht nicht ganz so, wie dies für die Zeit ab dem Inkrafttreten der SE-Verordnung im Jahr 2004 seitens des Rates der Europäischen Union angedacht war. Die SE-Varianten dieser supranationalen Rechtsform sind vielgestaltig. Das liegt vor allem daran, dass die SE-Verordnung nicht alles regelt, sondern nur eine Rahmenregelung darstellt, die den nationalen Gesetzgebern der EU individuelle Regelungen erlaubt. In Deutschland übernimmt diese Aufgabe das SE-Ausführungsgesetz (SEAG) in Verbindung mit dem Aktiengesetz. Für jede SE muss die Hauptversammlung der Aktionäre in der Satzung der SE darüber verfügen, ob es sich bei der in Deutschland ansässigen SE um ein dualistisches oder ein monistisches System handeln soll. Wesentliches Merkmal des monistischen Systems ist § 27 SEAG: „Der Verwaltungsrat leitet die Gesellschaft, bestimmt die Grundlinien ihrer Tätigkeit und überwacht deren Umsetzung.“ Weitere Organe als den Verwaltungsrat gibt es beim monistischen System nicht. Anders als beim dualistischen System mit separatem Leitungsorgan (Vorstand) und getrenntem Aufsichtsorgan (Aufsichtsrat) hat der Verwaltungsrat die alleinige Letztverantwortung.
Kritik am Statut der SE
Insbesondere in Deutschland gab und gibt es bis heute umfangreiche und deutliche Kritik an dem Statut der SE. Die Kritik richtet sich in erster Linie gegen dualistische Versionen der SE, die wie die deutsche Aktiengesellschaft einen Aufsichtsrat mit Arbeitnehmervertretern haben muss, wie dies in der Montanindustrie, nach dem Mitbestimmungsgesetz und nach dem Drittelbeteiligungsgesetz gesetzlich geregelt ist. Die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Politik und in der Literatur betreffen vornehmlich die Umgehung von Mitbestimmung, das Einfrieren eines mitbestimmungsfreien Zustandes oder eines bestimmten Mitbestimmungsniveaus[1] und die Verwendung von „nicht ordentlichen“ SE-Vorratsgesellschaften.
Nach Ermittlung der Hans-Böckler-Stiftung gab es 2021 in Deutschland 159 „normale“ SE (operativ tätige Gesellschaften ab 5 Arbeitnehmern) mit monistischer Struktur ohne unternehmerische Mitbestimmung.[2]
Die Kritik an der betrieblichen Partizipation eines Betriebsrats hinsichtlich Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern nach dem deutschen Betriebsverfassungsgesetz (BVG) und der Richtlinie SE-RL zur SE-VO hält sich bei einer monistischen (Familien-)SE in Grenzen.
In dieser Situation bedarf es einer gewissen Interpretation der Rechtslage dahingehend, dass es durchaus möglich ist, eine monistische SE ohne Arbeitnehmer-Einfluss in Form von unternehmerischer Mitbestimmung im Verwaltungsrat zu gestalten und somit einer Unternehmerfamilie eine grosse Eigenständigkeit einzuräumen. Das muss nicht bedeuten, dass sich nicht auch ohne gesetzlich vorgegebene unternehmerische Mitbestimmung freiwillige und sinnvolle Modifikationen anbieten, um Fachkompetenz und persönliche Interessen von Arbeitnehmern in Entscheidungen des Verwaltungsrats zu integrieren und mit gesellschaftsethischen Ansprüchen in Einklang zu bringen.
Da dieser Artikel zur monistischen Familien-SE auf die Interessen von Familienunternehmen ausgerichtet ist, befasst er sich nicht weiter mit habituellen und integralen Arbeitnehmerinteressen.
Das CEO-Modell der monistischen Familien-SE
Die monistische SE bietet im Gegensatz zu den anderen in Deutschland geläufigen Kapitalgesellschafts-Rechtsformen wie GmbH oder AG spezifische Vorteile für Familienunternehmen.
Unter der Voraussetzung, dass es sich bei einer Unternehmerfamilie um eine Mehrgenerationen-Herkunftsfamilie und eine wirtschaftliche Gemeinschaft mit gemeinsamer rechtlicher und sozialer Verantwortung und Fürsorge untereinander handelt, lässt sich das CEO-Modell der monistischen SE mit einem kleinen Kreis natürlicher Personen beispielhaft gestalten:
Vorspann:
Der Verwaltungsrat als Kollektivorgan für Geschäftsleitung und Aufsicht der monistischen SE muss mindestens einen geschäftsführenden Direktor für Leitungsaufgaben und Aussenvertretung der SE haben. Sofern dieser geschäftsführende Direktor Mitglied des Verwaltungsrats ist, handelt es sich um einen sog. internen Direktor. Da die normalen Mitglieder des Verwaltungsrats immer mehr sein müssen als diejenigen Mitglieder des Verwaltungsrats, die geschäftsführende Direktoren sind, muss es in diesem Fall neben dem geschäftsführenden Direktor mindestens zwei weitere normale Mitglieder des Verwaltungsrats geben, die neben gewissen Leitungsaufgaben im Wesentlichen Überwachungsfunktion haben.
[Anmerkung: Handelt es sich bei dem geschäftsführenden Direktor um einen externen Direktor, der nicht Mitglied des Verwaltungsrats ist, reicht es aus, wenn der Verwaltungsrat aus einem einzigen Mitglied besteht. Für monistische SE-Vorratsgesellschaften werden solche Gestaltungen auf dem Markt angeboten. Für eine monistische Familien-SE dürfte eine solche Gestaltung mit einem externen Direktor eher nicht in Frage kommen, vor allem dann, wenn er kein Familienmitglied ist.]
Für diese Mini-Gestaltung reichen also drei Familienmitglieder aus. Wegen der Dominanz eines derartigen geschäftsführenden Direktors – oftmals des „Familienoberhaupts“ – wird diese Gestaltung in Anlehnung an die angloamerikanische Übung, den Chief Executive Officer (CEO) und den Chairman of the Board (COB) in Personalunion zu besetzen, als CEO-Modell bezeichnet, wobei die Machtfülle des hier beschriebenen geschäftsführenden Direktors der monistischen Familien-SE noch umfassender gestaltet werden kann als die eines CEO nach angelsächsischer Gepflogenheit.
Beispiel für die Attraktivität einer deutschen monistischen Familien-SE
Die Vorteile und die Attraktivität einer monistisch strukturierten Familien-SE nehmen, wenn der Verwaltungsrat personell erweitert wird, grundsätzlich zu. Im Folgenden wird versucht, dies an einem Beispiel mit einem Verwaltungsrat zu darzustellen, der von der Hauptversammlung der Familienaktionäre auf die sechs Familienmitglieder A, B, C, D, E und F fixiert ist und auf einer von der Hauptversammlung beschlossenen konsistenten Satzung der monistischen Familien-SE basiert:
· Die 2 Verwaltungsratsmitglieder A und B sind die geschäftsführenden (internen) Direktoren der Geschäftsleitung.
· B leitet als Controller für seinen Geschäftsbereich eine eigene Sparte.
· Der dominierende A ist Vorsitzender der Geschäftsleitung, bestehend aus A und B.
· A ist zusätzlich gewählter Vorsitzender des Verwaltungsrats[3] und
· hat ein Zweitstimmrecht für Abstimmungen des Verwaltungsrats in Pattsituationen.
· Senior C ist Vater von A. Er möchte sich aufgrund seines Alters langsam aus der Unternehmensleitung zurückziehen.
· D ist Sohn von A. Er ist 27 Jahre alt und soll sein betriebswirtschaftliches Wissen nach dem Masterexamen im Zuge der Umsetzung des mit der Familie abgestimmten Nachfolgekonzepts praxisbezogen schrittweise realisieren.
· E ist Nichte von A. Ihre Familie hat sie aufgrund eines Poolvertrages mit einem anderen Familienstamm in den Verwaltungsrat entsandt.
· F soll in seiner Eigenschaft als Wirtschaftspsychologe und Vertrauter aller Familienstämme Interessenskonflikte zwischen Familienangehörigen austarieren.
Corporate Governance
Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) hat sich bisher mit seinen Grundsätzen, Empfehlungen und Anregungen zur Leitung und Überwachung für dualistisch strukturierte deutsche Kapitalgesellschaften nur beiläufig zur deutschen monistischen SE geäussert.[4] Eine Ergänzung wäre nicht unangebracht und würde für die deutsche monistische (Familien-)SE auch dazu beizutragen – wie es in der Präambel des DCGK heisst – „dass die Gesellschaft im Unternehmensinteresse geführt wird.“ Ein spezieller Governance-Kodex für Familienunternehmen wurde schon vor 10 Jahren von anderer Seite entwickelt.[5]
Auch der deutsche Gesetzgeber täte gut daran, die bislang unübersichtliche und den SE-Gesetzesmaterialien nicht entnehmbare Grenzziehung zwischen laufender Geschäftsführung und allgemeiner Unternehmensleitung bei der monistischen (Familien-)SE zweckdienlich und funktional klar zu regeln.[6]
Prof. Dr. iur. Hartmut Mohr, Ra.i.R./StB; Heroldsberg
[1] Krause, Eindämmung des „Einfriereffekts“ bei der Europäischen Gesellschaft (SE), I.M.U.-Mitbestimmungs-Report der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 77, 10.2023
[2] I.M.U./Institut der Hans-Böckler-Stiftung, SE-Datenblatt – Stand: 30.06.2021.
[3] „Eine gesetzliche [!] Zuweisung der Geschäftsführung an den Vorsitzenden des Verwaltungsrats (wie der P.D.G. in Frankreich) erscheint nicht sinnvoll, da hiermit eine besondere Machtfülle entsteht.“ Begr. RegE zum SEAG, BT-Drs. 15/3405, 39 zu § 40 SEAG. P.D.G.= président-directeur général.
[4] Damit geht die Verpflichtung nach § 285 Nr. 16 HGB, die nach § 161 AktG vorgeschriebene Entsprechens-Erklärung zum Corporate Governance Kodex abzugeben, tendenziell ins Leere. Vgl. auch die Diss. von Bastian Messow, Die Anwendbarkeit des Deutschen Corporate Governance Kodex auf die Societas Europaea, 2008.
[5] Erstmals 2004. Aktuelle Fassung Mai 2021, wenn auch ohne konkreten Bezug zur monistischen SE, kodex-fuer-familienunternehmen.de
[6] Vgl. Billerbeck, Die Geschäftsleitung i.S.d § 10 AO bei gesellschaftsrechtlicher Ausgestaltung der Leitungs- und Geschäftsführungsbefugnisse, DStR 2024, 184, speziell Seiten 187 – 190.
Sick, Der Gesetzgeber ist am Zug, Newsletter HANS, Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung 22/2023.